Peter Deluse:

Bomber über Berlin

Als ich das erste Mal die Marienkirche besuche, um die Musik von Michael Muschner in der Klanginstallation „Der St. Marien Zyklus“ zu hören, ist diese nicht in Betrieb.

Auf meine Bitte hin wird sie von einem älteren Herren, der Ansichtskarten und ähnliche Dinge im vorderen Teil der Kirche verkauft, in Gang gesetzt. Der Mann gesellt sich gesprächig zu mir und als ich frage, warum die Klänge nicht die ganze Zeit zu hören sind, sagt er mit hochgezogenen Augenbrauen, dass besonders ältere Menschen bei den an- und abschwellenden Klängen doch ganz andere Assoziationen hätten, die eher an sich nähernde Bomberverbände erinnern würden.

Doch was geschieht hier wirklich?

Ich erinnere mich eines Besuches im Pantheon in Rom zur Winterzeit. Ich war bereits zahllose Male in diesem Raum gewesen, der mich jedes Mal sehr beeindruckt hatte, doch diesmal regnete es. Ich stand also still am Rand und irgendwann begann ich, die fallenden Tropfen mit den Augen zu verfolgen. Als ich dies tat, begriff ich das erste Mal die überwältigende Dimension dieses Kuppelraumes und ich erinnere mich gut einer gewissen Fassungslosigkeit, als sich mir der Raum auf diese unvermutete Art erschloss. Eine ähnliche Erfahrung kann man nun in der Marienkirche beim Durchwandern der von Michael Muschner geschaffenen Klanginstallation machen.

Die Marienkirche ist eines der wenigen alten Gebäude, die im zentralen Bereich rings um Fernsehturm und Alexanderplatz übrig geblieben sind. Als Ort der Stille abseits vom geschäftigen Trubel des Weihnachtsmarktes oder anderer saisonaler Aktivitäten wird sie von zahllosen Touristen besucht. Durch die ausgestellten Kunstwerke und die starke Frequentierung verliert der Kirchenraum seine Gesamtwirkung und zerfällt in viele kleine Bereiche, die nicht mehr gemeinsam erlebt werden können. Wie im vorgenannten Beispiel des Pantheon beschrieben, bringt nun die Klanginstallation „Der St. Marien Zyklus“ dem Raum etwas zurück, was er verloren hat: Er wird wieder als Volumen, als Gesamtheit erlebbar.

Raumwahrnehmung wird ganz häufig erst durch Klang möglich und in der Marienkirche steigert sich dieses Erlebnis noch durch die wechselnden Raumzonen, in denen man sich klanglich bewegen kann. Aus einem Hohlraum wird durch den Klang ein spürbares Volumen, ein Ganzes, das im Kontrast zu den Grenzen der eigenen Körperlichkeit den Menschen auf etwas weit über ihn selbst hinaus gehendes verweist. Dieses Erlebnis ist im tiefsten Sinne religiös, die Klanginstallation schafft dabei den kontemplativen sakralen Raum neu.

Es geschieht aber noch etwas Anderes: durch die an- und abschwellenden Klänge ändert sich das Verhältnis von Innen und Aussen. Sind die Klänge lauter und damit raumgreifender, wird der Fokus des Betrachters auf den Innenraum gelenkt. Schwellen die Töne dagegen ab, so verweben sie sich langsam mit dem Umfeld, die Geräusche von außen werden Teil der Komposition und die Trennung zwischen Innenraum und Umfeld beginnt sich aufzulösen. Dies ist ein ganz wunderbarer Moment beim Erleben der Klanginstallation, denn wenn die Musik so leise wird, dass man ihr „nachhören“ muss, dass man die Sinne schärfen muss, um sie noch zu entdecken, ändert sich auch das Verhältnis zu den Geräuschen, die uns täglich umgeben. Das Volumen des Kirchenraumes wirkt nun auf einmal wie ein riesiger Schalltrichter, der alles ihn Umtosende bündelt und in einem eigenen Klang aufzulösen beginnt. Die feinen musikalischen Klänge verbinden sich mit den Alltagsgeräuschen und heben damit die Trennung zwischen Kunstraum und Alltag auf.

Doch nun zurück zu den anfänglich beschriebenen Assoziationen der Bomberverbände: Jeder kennt den Moment, Musik zu hören und dabei zu erleben, wie die Gedanken und Gefühle sich zu lösen beginnen, wie eine wahre Flut von Assoziationen das hellwache Bewusstsein durchbraust. Ein solches Erlebnis kann man nun während eines ganzen Jahres in der Marienkirche mit der Musik des „St. Marien Zyklus“ haben. Dass dies vielleicht nicht immer angenehm ist und durchaus auch Erinnerungen weckt, die man zu vergessen sucht, liegt im Charakter der Kontemplation begründet. Sie bringt Dinge zurück, die man schon längst vergessen zu haben meint, aber erst das Rückbesinnen macht den Kopf frei für Neues. In diesem Sinne ist die Musik von Michael Muschner in seiner Klanginstallation etwas Seltenes und dafür umso Wertvolleres in einer sich immer schneller drehenden Welt.

evang. St. Marienkirche

Karl-Liebknecht-Straße 8

10178 Berlin-Mitte

Die Kirche ist täglich geöffnet von 10 bis 21 Uhr