Pfarrer Johannes Krug:

Wer kann schon sagen, er verstehe Gottes Wort ?

Die einen fühlen sich ganz einfach gestört: hier, in der ehrwürdigen Kirche, hätten sie Ruhe erwartet, das zeichne doch Kirchen aus. Eine Insel der Stille, umbrandet vom urbanen Verkehr. Andere sind erschreckt vom Klang der Installation. Alte, schwere Erinnerungen tauchen wieder auf. Sie hören das Gebrumm der Flugzeuge hoch über Dresden in der Nacht der Vernichtung, sie assoziieren das Fallgeräusch herabstürzender Bomben. Wieder andere nehmen Platz in einer der Kirchenbänke: das Rauschen des Geistes meinen sie zu hören, oder den Wind, der den Gottesberg Horeb in der Wüste Sinai umweht. Sie greifen zu den ausliegenden Postkarten, meditieren das biblische Wort, verweilen oder gehen umher in der Kirche.

Ich weiß: die Entscheidung des Gemeindekirchenrates für dieses Projekt stößt auf geteilte Meinung. Auch in den Reihen der Gemeindeleitung selbst bleibt die Klanginstallation umstritten. Wann war moderne Kunst das nicht? Sogar Bilder Claude Monets, heute von so Vielen geschätzt, mussten seinerzeit mit Polizeigewalt geschützt werden vor zerstörender Empörung.

Natürlich, auch ich habe einen sehr subjektiven Zugang zu diesem Projekt. Die Entfremdung des biblischen Wortes, das ist es, was mich berührt. Ich habe mit ihr zu tun bei der Predigtvorbereitung. Das biblische Wort ist in der Klanginstallation nicht zu „verstehen“ – aber wer kann schon sagen, er verstehe Gottes Wort? Die Wirkungsgeschichte der Heiligen Schrift ist eine, vorsichtig gesagt, Interpretationsgeschichte. Das Wort Gottes, das Wort Jesu, Jesus, das Wort: wir haben sie nie „rein“, stets nur im Widerschein, in der Interpretation und darum immer nur in einer gewissen Verzerrung. Schon die biblischen Schriften sind Widerschein – freilich ein besonders klarer und gelungener, deshalb werden sie von den Gläubigen (nicht von einer religiösen Autorität) als „kanonisch“ geachtet.

In der Universität gehen Pfarrerinnen und Pfarrer durch die Schule einer historisch-kritischen Exegese. Oft genug führt uns diese Methode zur Einsicht, wie tief der Graben ist zwischen dem historischen Wortsinn und unserem modernen Verstehen. Und sie führt zu einer geistigen und geistlichen Redlichkeit: unser Verstehen kann immer nur Annäherung sein. So möchte dieser Zugang bewahren vor einer unreflektierten Interpretation, einer rein assoziativen und damit letztlich vereinnahmenden Bibelauslegung. Sensibel für gefährliche Verzerrungen sollen wir werden, und selbstkritisch vor der eigenen subjektiven Brille. Vorsichtig sollen wir sein, schnell zu behaupten: „die Bibel sagt“, stattdessen ehrlicher predigen: „das, liebe Gemeinde, ist mein Wagnis der Auslegung, zu dem ich nach bestem theologischen Wissen und christlichem Gewissen gelangt bin“. Aus guten Gründen bekennen wir in St. Marien unseren christlichen Glauben nach der Evangeliums-Lesung und nicht nach der Predigt.

Um das zu verstehen, braucht man kein Theologiestudium. Es ist mein Wunsch, dass die ungewohnte, ja irritierende, auch störende Klanginstallation Besucherinnen und Besucher lockt darüber nachzusinnen, was es denn heißt, Gott selbst im Wort der Heiligen Schrift zu verstehen. Martin Luther sei es gedankt, wir können eine deutsche Übersetzung der hebräischen und griechischen Bibel zur Hand nehmen – aber damit beginnt ja erst das faszinierende Abenteuer des Verstehens.

evang. St. Marienkirche

Karl-Liebknecht-Straße 8

10178 Berlin-Mitte

Die Kirche ist täglich geöffnet von 10 bis 21 Uhr