Christoph Metzger:

Michael Muschner. Der St. Marien Zyklus.

53 Kompositionen aus dem Geist des Wortes

Gegliederte Zeit

Musik gliedert Zeit. Sie gestaltet und erklingt in Räumen, lässt Ereignisse in den Vordergrund treten, bildet Formen und gibt Verläufen eine Richtung. Die Musik aus dem Geist des Wortes nutzt den Klang der menschlichen Stimme als ursprünglichstes Instrument. Ihre Tonlage, kulturelle Prägung und Eigenart werden während eines Kirchenjahres in den 53 Kompositionen erklingen. Der größte für uns erlebbare regelmäßige Zeitrahmen bestimmt das Werk: Das Jahr. In dieser Zeit entwickeln sich 53 Phasen in vier Klangschichten, die ununterbrochen in der St. Marienkirche erklingen. Der Hörer erschließt sich seinen Weg durch das Kirchenschiff und das Werk, das er im Stehen und Gehen, wandelnd erfährt.

Die Stimmen der beiden Pfarrer der Gemeinde verlesen für die Kompositionen Texte aus der Bibel, für jede der 53 Wochen des Kirchenjahres einen besonderen Text. Ihre gesprochenen Worte wurden zunächst aufgenommen, vom Komponisten in spektrale Bestandteile zerlegt, um schließlich zu Phasen montiert zu werden. Gesprochene, nicht gesungene Worte werden in musikalisch gegliederte Zeit gebracht: Musik entsteht.

Aus zarten Fäden entsteht das klangliche Gewebe der einzelnen Kompositionen. Sie werden zum Zyklus zusammengefügt. Kompositorische und semantische Textur gehen ineinander über, bedingen sich gegenseitig. In meist langen ruhigen Phasen heben und senken sich die Stimmen, die als solche kaum erkennbar werden: Eine Musik verborgener Stimmen?

Muschner entlockt den Worten klangliche Qualitäten, indem er aus einer quasi mikroskopischen Perspektive die Binnenstruktur der gesprochenen Worte erforscht. So werden viertel- und halbtönige Differenzen von kleinsten Partikeln frei, die zum Teil wie pulverisierte Klänge erscheinen können. Sie werden gestaucht, gedehnt, gestreckt, überlagert, gedreht und räumlich verschoben. Auf diesem Weg gelingt es, aus dem Geist der Worte eine klangliche Atmosphäre entstehen zu lassen, die jenseits ihrer Bedeutung und Semantik liegt. Polyphone Linien bilden sich, die zu Flächen erweitert werden. Nicht motiv-thematische Gestalten sind die Grundbausteine der Komposition, es sind pulsierende atmosphärische Schwebungen im imaginären musikalischen Raum. Bewegte Klangschichten und Klanglandschaften entstehen, die sich aufbauen, verdichten und wieder auflösen. Der kompositorische (Welt-) Raum wird durch Flächen bestimmt, deren Topografien weite Horizonte assoziieren lassen. Einzelne Hebungen und Senkungen treten im Fluss der Ereignisse als dynamisch fließende Übergänge hervor. Längere Passagen, die sich musikalischen Pausen annähern, werden gestaltbildend, wenn sich der Klang an einen anderen Ort verlagert. Manchmal erscheinen an der Grenze zum Rauschen pulsierende sphärische Klänge, die weder Anfang noch Ende zu kennen scheinen. Musikalische Zeit kann als universelle Fläche erfahren werden. Das verkündigte Wort wird Atmosphäre und es verbindet sich mit den Geräuschen, die in den Kirchenraum gelangen.

Hören im Raum

Das Hören im Kirchenraum ist zunächst von der Struktur geprägt, die durch die Verteilung der Klangquellen bedingt wird. Es ist eine leise klingende Musik, die an der Grenze des Wahrnehmbaren erscheint. Insgesamt wurden zwanzig Hör-Orte vom Komponisten definiert, deren Klangquellen im Kirchenraum in den Fußboden eingelassen sind. Es bilden sich abhängig vom Standort des Hörers Klangzonen, die zum Verweilen einladen. Klänge schaffen eine Atmosphäre, die den Besucher motivieren, sich den Kunstschätzen des Raumes zuzuwenden. Den ersten Eindruck beim Betreten des Kirchenraums bildet das „bedeutende spätgotische Wandgemälde, ‚Der Totentanz’ der sich auf einem ca. 2 Meter hohen und 22 Meter langen Bildstreifen zwischen Westportal und nördlichen Seitenschiffseingang befindet. Der Darstellung des Wandbildes ermangelt alles Dramatische, es fehlt die bei späteren Werken gleichen Inhalts, oft sehr ausgeprägte Verzweiflung. Die Figuren bewegen sich, ruhig schreitend, vor einer hügeligen Landschaft.“* Können sie als metaphorische Hinführung zu dem St. Marien-Zyklus - 53 Kompositionen aus dem Geist des Wortes verstanden werden?

Die Aufmerksamkeit des Besuchers, der sicher oft unerwartet bei seinem Besuch in der Kirche, die einer Galerie ähnelt, mit dem Werk in Kontakt tritt, wird von im Raum kreisenden, gebündelten, klein- und großflächigen Klanggeweben eingenommen. Atmosphärische Schwebungen evozieren Momente gerichteter Aufmerksamkeit. Hörer unterschiedlichster Herkunft und Nationalität werden angesprochen, sich auf das universale Werk einzulassen, das Grenzen der Sprache hinter sich gelassen hat.

Gerichtete Momente

Ideale Hörpunkte werden individuell gefunden. Wie in einer Galerie sind Bildfolgen und Episoden aus der Bibel angeordnet, sie gliedern den Raum neben dem Verlauf der Säulen. Weißes Licht dringt durch große Fensterscheiben und leuchtet den Kirchenraum aus. Es ist die Verbindung von Bildern und Klängen im hörenden Menschen, die Muschner offensichtlich zum Werk veranlasst hat. Zumal der Titel unmittelbar auf die evangelische Kirche bezogen wird. Ihr Name, der noch an den Marienkult in der Zeit vor der Reformation erinnert, wird Bestandteil der Komposition. Gerichtete Momente loten Übergang vom Innen- zum Außenraum aus. Wechselndes Tageslicht und die Geräusche der befahrenen Straße weisen auf Übergänge hin. Die Kirche wird zum spezifischen akustischen Ort. Muschners St. Marien-Zyklus ist eine Langzeit-Komposition in Gestalt einer Klanginstallation. Ihre deutlichen Bezüge zum Ort ließen sich nur bedingt auf andere Orte und deren Kontexte übertragen. Wahrscheinlich prägen sie sich als Unikate in die Erinnerung derer ein, die sie wahrgenommen haben. Der St. Marien-Zyklus bindet sich auch durch seinen Titel an den Ort. Transfer an einen anderen Ort würde die Verwendung eines anderen Klangmaterials voraussetzen. Die Stimmen beider Pfarrer, die zum Klangmaterial des Stückes geworden sind, sind einmalig und verbinden sich mit den Merkmalen des Raumes.

Aus musik- und kunsthistorischer Sicht lässt sich der St. Marien-Zyklus in der Tradition von Kompositionen lesen, denen klangfarbliche Nuancen zentrales Motiv sind. Die Atmosphäre des Ortes und Raumes wird Teil der Komposition. Je nach Standort variieren die Resonanzfelder. Muschners St. Marien-Zyklus steht in der Tradition zeitlicher Expansionen musikalischer Werke die die enge metrische Gliederung verlassen. Entsteht ein neues Hören?

Unweigerlich wird man an Walter Benjamins Figur des Flaneurs erinnert, der im Laufe seiner städtischen Erkundungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannte Orte als Phantasmagorie erlebt. Das Flanieren in der Stadt ist ästhetisches Programm, die Entdeckung der Möglichkeiten des Raumes wird unter dem Eindruck des Nicht-dramatischen Kontrast zum urbanen Treiben am Alexanderplatz.

* Ernst Badstübner, Marienkirche Berlin, (Schnell, Kunstführer Nr. 2081, Regensburg, 1995, S.10)

evang. St. Marienkirche

Karl-Liebknecht-Straße 8

10178 Berlin-Mitte

Die Kirche ist täglich geöffnet von 10 bis 21 Uhr